Unterm Laub am Wegrand, das kleine Kruzifix.
Ganz leicht ist es, ein schmächtiger, zarter Christus nur, kopflos, ohne Beine, zerkratzt und verdreckt. Von leichenhafter Blässe der zerstörte Körper, über den das schwankende Schildchen seinen beissenden Spott ausgiesst: JNRJ.
Dieses Kruzifix spricht zu mir in einer Unmittelbarkeit wie keins der anderen, der goldenen, vollkommenen, fernen. Plötzlich diese ungeheure Nähe – unter meinen Fingern seine Rauheit, die Bruchstellen, die Haut…
Es spricht eine Sprache, die nichts mit künstlerischer Vollendung zu tun hat.
Es spricht durch das, was fehlt.
Der Querbalken des Kreuzes fehlt. Die Nut ist noch erkennbar, wo er den senkrechten Stamm kreuzte: eine Leerstelle, die deutlicher als jede Darstellung benennt, was dort war. Der entsetzliche Balken, die dicken, rostigen Nägel und die blutenden Hände zwischen Holz und Nagelkopf.
Wir wissen es, auch wenn wir es nicht sehen. In unendlicher Wiederholung haben wir es tagtäglich vor Augen. Nicht nur in Kirchen und Kapellen, nein, am Weg, im Wald, im Dorf, über Betten und Tischen, in Nischen, an Wänden, innen, aussen, ja selbst in Autos und Decolletés.
So oft begegnet es uns, dass wir darüber hinwegsehen.
Aber wir stutzen angesichts der Abweichung von unserer unwillkürlichen Erwartung. Da gucken wir hin. Die Irritation lässt uns innehalten. Sie weckt etwas in uns. Der Blick kehrt zurück zu den Leerstellen, wieder und wieder, er umkreist sie, verhakt sich in ihnen.
Kein Zweifel, dieses ramponierte Etwas IST ein Kruzifix, bleibt ein Kruzifix, auch ohne Querbalken, auch ohne Nägel. Auch ohne Kopf und ohne Beine.
Der Körper hat sich gelöst, befreit, er hängt nicht mehr.
Er schwebt.
Von der Verwindung des Rumpfes, dieses schmutzigen Gipsrumpfes ohne Kopf und Beine, von der abgeknickten Hüfte unter den Resten von Tuch strömt eine so ungeheuerliche Schmerzintensität, dass uns der Atem stockt.
Während uns der Ausdruck des leidenden Antlitzes Christi vertraut scheint, allzu vertraut oft, müssen wir die Sprache dieses Torsos entschlüsseln. Sie verlangt nach unserer Einfühlung, sie zieht uns hinein in die Versehrtheit dieses Körpers. Und lässt uns sein Leid unmittelbar teilen.
Die Versehrtheit dieses Christus‘ übersteigt jedes Mass, selbst wenn wir die grauenhafte Leidensgeschichte Christi zur Genüge kennen.
Dieser hier hat das in unendlichen Variationen wieder und wieder Erzählte und Dargestellte bereits hinter sich. Er hat seinen vorgezeichneten Weg hinter sich.
Aber er hat ihn nicht überwunden. Es ist nicht „vollbracht“.
Im Gegenteil, er geht den Weg weiter, er ist noch unterwegs, mit uns, auf dem Weg von Gewalt, Missachtung, Vergessen, Entsorgung im Unrat.
Sein Kopf verloren – er kann mir sein Gesicht nicht zeigen, er kann mich nicht anblicken.
Seine Beine verloren – keine Verbindung mehr zu seinem so menschlichen Gang durch unsere Welt.
Doch die Mitte des geschundenen Leibes trägt die Arme, diese übermässig langen Arme mit den schmalen, offenen Händen.
Der Schmerz gewordene Torso breitet die Arme weit aus. Nicht von Nägeln gemartert, nein, jenseits des Kreuzes tragen sie sich selbst. Kaum noch Haut und Knochen, an der äussersten Grenze des Schmerzes gelingt ihnen diese überwältigende Geste. Jenseits des Todes erheben sie sich.
Zum Segnen.
Zum Ostersegen.
Katrin Meyer-Krahmer 4/2021