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Die Sieben Todsünden: Im 21. Jahrhundert überhaupt noch aktuell?

Die Idee der Todsünden ist im mönchischen Leben des fünften nachchristlichen Jahrhunderts entstanden. Über Hunderte von Jahren wurde ein Sündenkatalog entwickelt, erprobt und verfeinert und schließlich von ursprünglich acht auf sieben fixiert: Hochmut (saligia), Habgier (avaritia), Wollust (luxuria), Zorn (ira), Völlerei (gula), Neid (invidia) und Trägheit (acedia).

Die Sieben Todsünden können aber auch heute noch herangezogen werden, um das Verhalten der Menschen heute zu reflektieren und den gesellschaftlichen Wandel hinsichtlich Moral und Ethik zu untersuchen.

Die Sieben Todsünden heute

 Habgier zum Beispiel hat viele Gesichter: In Erregung versetzen uns raffgierige Politiker und „Abzocker“ in der Wirtschaft. Jedoch ist Habgier und Geiz nicht nur als ein Privileg von Mächtigen zu verstehen, sondern wir alle scheinen Habgier und Geiz in unseren Alltag integriert zu haben. Wir sind zu Schnäppchenjägern geworden und wollen möglichst viel Ware für wenig Geld haben. Die Entwicklung in eine Konsumgesellschaft, welche ständig das „Preis-Leistungs-Verhältnis“ im Auge hat, scheint eher normal als verwerflich zu sein.

Völlerei hat heutzutage viele verschiedene Erscheinungsformen: Prasserei, Verschwendungssucht, Trunksucht, Fresssucht, welche aber kaum noch als Sünde wahrgenommen werden. Völlerei wird oftmals eher als verachtenswerte, angeberische Charakterschwäche oder als eine gesundheitliche Störung, welche in erster Linie ein ästhetisches Problem darstellt, angesehen. Das unkontrollierte Maßhalten von Essen und Trinken lässt sich an vielen Symptomen ablesen. Die Häufigkeit von Essstörungen sowie ein Blick auf die Suchtstatistiken spiegeln dieses Verhalten wieder. Die obsessive Beschäftigung mit allem was man essen und trinken kann, und die Suche nach dem besten Rezepten und den besten exklusiven Genüssen spiegelt uns die Maßlosigkeit der heutigen Gesellschaft in den Industrieländern wieder.

Trägheit hat sich dort breit gemacht, wo man versucht, sich aus der Verantwortung seinem Nächsten, aber auch sich selbst gegenüber, zu stehlen. Trägheit ist heute vor allem Gleichgültigkeit. Diese hat viele Facetten, wie zum Beispiel das Ignorieren fremder Schicksale, sich aus Bequemlichkeit aus allem rauszuhalten und Menschen keine Hilfsbereitschaft mehr anzubieten. Die Trägheit geht soweit, dass sie uns als Denkfaulheit und als Selbstunterforderung erscheint, nicht in den seltensten Fällen getarnt als Überlastung. Diese Faulheit macht aber paradoxerweise erfinderisch. Die Menschen heute haben Wege gefunden, sich sowohl aus der körperlichen als auch aus der geistigen Trägheit zu befreien. Lieber kauft man im Internet ein als sich zu bewegen und aus Faulheit lässt man lieber andere denken statt selbst nachzudenken.

Neid kann man seit Kain und Abel wohl als die Ursünde bezeichnen. Aber spätestens mit dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters ist Neid der eigentliche Motor des Fortschritts und des wirtschaftlichen Wachstums. In modernen Gesellschaften entwickelte sich Neid aber auch zu einem mächtigen Ordnungsprinzip, welches Institutionen und Organisationen zur Folge hatten, die dazu dienten, den „Neid“ zu managen und beschwichtigen. Neid führt oft zu einer Staatsver-drossenheit. Mit Kompensationsmechanismen versucht man zwar zwischen niedrigeren und höheren Einkommen einen Ausgleich zu schaffen, jedoch ist die Macht des Neides oft schwer unter Kontrolle zu bekommen: Existenzielle Ungleichheiten und soziale Ungerechtigkeiten können nie auch nur annähernd beseitigt werden. Neid ist oftmals die Ursache von seelischem Dauerschmerz und dem Zwangsgedanken nach dem Wunsch: „Das will ich auch haben!“

Zorn entwickelt sich bei uns vor allem gegen die anderen „Sünder“, die uns Zeit und Geld kosten. Störenfriede, welche uns bei unseren Bemühungen nach Gier, Lust und Hochmut in die Quere kommen, machen uns zornig. Wir werden wütend, wenn unsere Ansprüche und Rechte nicht respektiert werden. Es gibt viele Rechte und hohe Ansprüche. Jeder hat dazu auch unterschiedliche Meinungen, somit sind Zorn und Wut zwischen den einzelnen Meinungsbildern oft vorprogrammiert.

Auch Wollust ist heute kein Laster mehr, sondern eine immer verfügbare Angelegenheit. Eine durch und durch banalisierte Sexualität prägt die Gesellschaft. Sexuelle Lust ist heute ein gängiges Marketinginstrument. „Sexy“ zu sein wurde zu einem unverzichtbaren Lifestyle-Attribut, sexuelle Schlüsselreize dienen als Kaufanreiz: Nicht umsonst heißt es „sex sells“. Dating Apps für jede Altersgruppe werden zur Selbstverständlichkeit und gelten keineswegs mehr als verrucht.

Hochmut hat viele Gesichter. Die Überheblichkeit, die Eitelkeit und der Dünkel mit dem Ziel besser, klüger und schöner als andere zu werden. Gegenwärtige Erscheinungsweisen begegnen uns in Form von maßloser Selbstüberschätzung, intellektueller Arroganz und der Zurschaustellung von durch Schönheitsoperationen veränderten und gestylten Körpern. In den letzten Jahrzenten haben sich die Maßstäbe stark verschoben, sodass ein gewisser Narzissmus zur Selbstver-ständlichkeit wurde. Will man mit anderen in der modernen Aufmerk-samkeitsökonomie konkurrieren, so ist eine Selbsterhöhung und –überhöhung fast schon zwingend gefordert.

Die sieben Todsünden prägen nicht mehr, wie früher, nur einen Charakter. Die meisten Menschen sind nämlich heute gierig, eitel und geizig zugleich, gleichermaßen fähig zur Verschwendung und zur Sparsamkeit. Ein derzeitiges Merkmal ist vielmehr, dass es Lebensumstände gibt, in denen solche „sündigen“ Impulse sogar sehr häufig gefordert werden. In der mobilen, auf Leistung, Wettbewerb und Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft gibt es eben häufiger die Gelegenheit, neidisch oder hochmütig zu sein. Stress und Zeitdruck machen uns ungeduldig, reizbar und wir reagieren mit Wut und Zorn auf Schwierigkeiten. Durch Medien werden wir ständig zu Konsum, Selbstverwöhnung und Bequemlichkeit animiert und sind deshalb gieriger, hungriger und fauler als wir es in einer reizärmeren Umwelt wahrscheinlich wären. Die Todsünden haben ihre spirituelle, mönchische Bedeutung in unserem derzeitigen Leben weitgehend verloren. Gegenwärtig erscheinen sie uns eher als unangenehme, aber banale Verhaltensweisen, aber auch als zeitgemäße Strategien der Erfolgs- und Lustmaximierung oder der Selbstbehauptung. Sünder sind keine tragischen Gestalten mehr, die ihren Leidenschaften und Lastern verfallen. Die Sünden sind in der Mitte der Gesellschaft als manchmal unerfreuliches, aber weitgehend auch toleriertes, teilweise sogar gezielt gefördertes Verhalten, angekommen. Aus einigen Todsünden wurden nach und nach Tugenden, zumindest aber akzeptierte Verhaltensweisen oder gar Zivilisationsimpulse, an welchen sich der gesellschaftliche Wandel von Werten und Moralvorstellung nachvollziehen lässt.(„Geiz ist geil“) Diese Neubewertung der „Todsünden“ zu nützlichen Eigenschaften oder gar Tugenden finden wir zuerst in der Renaissance, sie schritt in der Moderne weiter fort und ist bis heute nicht abgeschlossen.

Der Staatsphilosoph Niccolò Macchiavelli (1469–1527) schrieb: „Wenn man alles genau betrachtet, wird man finden, dass manches, was als Laster gilt, Sicherheit und Wohlstand bringt.“

Iris Scharwächter 16.06.2020

Quellen:

  • http://www.kunstdirekt.net/Symbole/allegorie/bosch/todsuenden/images/Hauptsuenden-005.jpg
  • https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowissen/religion/todsuenden-radiowissen100~_v-img__16__9__l_-1dc0e8f74459dd04c91a0d45af4972b9069f1135.jpg?version=8ae2a
  • https://www.katholisch.de/artikel/23522-das-jahrhundertealte-geheimnis-der-sieben-todsuenden
  • https://sieben-todsuenden.com/
  • https://www.tipps-vom-experten.de/wie-die-7-todsuenden-noch-heute-unser-leben-praegen/
  • Kunstprojekt Anja Scharwächter GK 2018/2019